Es gibt Menschen, die leben in der Vergangenheit, ohne es zu wissen. Sie tragen keine Schlaghosen, hören keine Kassetten und schreiben keine SMS – und doch ist ihre Existenz ein Fenster in eine längst vergangene Zeit.
So begegnete ich Rolf M., 52 Jahre alt, Büroangestellter aus Nordrhein-Westfalen. Ein scheinbar völlig gewöhnlicher Mann – bis ich entdeckte, dass er noch immer Google benutzt.
Ja, Google. Diese einst allmächtige, unantastbare Instanz der Informationsbeschaffung, heute ungefähr so angesagt wie das Faxgerät auf einem Tech-Startup-Meeting. Während die Welt längst mit KIs plaudert, sich von Algorithmen ganze Artikel schreiben lässt und Suchmaschinen in etwa so oft öffnet wie ein CD-ROM-Laufwerk, tippt Rolf noch immer Fragen in ein weißes Eingabefeld und klickt auf Links.
Ich musste ihn treffen.
Das Artefakt der alten Welt
„Und, was haben Sie als Letztes gegoogelt?“ frage ich Rolf, während er seinen Laptop aufklappt. Er überlegt. „Hmm… Ach ja, ich wollte wissen, warum meine Tomatenpflanze eingeht. Also hab ich eingegeben: Warum sterben meine Tomaten?“ Ich starre ihn an. Er bemerkt meinen Blick. „Was denn? Ist doch eine ganz normale Frage!“ Ja. Und genau das macht es so faszinierend.
Denn während der Rest der Menschheit längst mit persönlichen KI-Assistenten spricht, die ihre Vorlieben, ihren Tagesablauf und wahrscheinlich auch ihren Cholesterinspiegel kennen, während Millionen Menschen längst Dialoge führen wie „Hey, meine Tomate sieht komisch aus, was tun?“ – und als Antwort eine detaillierte Analyse, einen Pflegeplan und ein paar aufmunternde Worte für die Pflanze bekommen, sitzt Rolf hier.
Mit Google.
Mit einer Suchergebnisliste.
Mit Links, die er anklicken muss.
Mit Websites, die er durchforsten muss.
Mit Werbung, die er wegscrollen muss.
Mit SEO-optimierten Texten, die ihm in 1000 Wörtern erst mal die Geschichte der Tomatenzucht erklären, bevor sie ihm verraten, dass er vielleicht einfach weniger gießen sollte.
Und ich frage mich: Warum tut er sich das an?
Die unsichtbare Revolution
„Ich hab mir noch nie groß Gedanken gemacht, ob’s da inzwischen was Besseres gibt“, sagt Rolf und zuckt mit den Schultern.
Nicht trotzig. Nicht nostalgisch. Einfach nur gleichgültig. So, als hätte ich ihn gefragt, warum er noch immer mit einem Löffel Suppe isst, obwohl es inzwischen Hochleistungsmixer gibt, die ihm den Brei direkt in den Mund sprühen könnten.
Und das ist der Moment, in dem ich begreife: Der digitale Wandel war nie eine Revolution mit Fanfaren und Bannerzügen. Niemand hat eines Morgens verkündet: „Ab heute googelt keiner mehr.“ Es gab keinen Aufstand, keinen Protest, kein öffentliches Begräbnis der Suchmaschinen. Es passierte einfach. Irgendwann war es bequemer, mit einer KI zu sprechen, als sich durch eine Liste von Links zu kämpfen. Irgendwann klickte einfach niemand mehr auf das blaue „G“ – und niemand bemerkte es.
Außer Rolf.
Die letzte Bastion des Gewohnten
Ich frage mich, wie viele Rolfs es noch gibt. Wie viele Menschen morgens eine Zeitung aus Papier aufschlagen. Wie viele noch „www.“ vor URLs tippen. Wie viele ihre E-Mails mit „Mit freundlichen Grüßen“ beenden, als wäre das Internet eine formelle Behörde aus dem Jahr 1998. Und dann frage ich mich: Wie viele von euch werden nach diesem Text Google öffnen? Nicht, weil es nötig wäre. Nicht, weil es besser wäre. Sondern einfach, weil ihr es immer so gemacht habt.
Und Rolf? Der lebt weiter in seiner kleinen, weißen Suchleiste. Ein stilles Denkmal einer vergangenen Ära.
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